Das geheime Flaschengrab von „Schröders Erben“ in Harsefeld.
Von Dietrich Alsdorf
Kaum zu glauben aber wahr – schon vor über 135 Jahren wurde im damals ländlichen Harsefeld an Limonaden und Mineralwässer experimentiert.
In einer Zeit, in der die Bürger vornehmlich das muffige, nach Eisen schmeckende Brunnenwasser konsumierten, eroberten die auf Flaschen gezogenen Sprudelwässer und süßen Limonaden den Geschmack der Bewohner.
Damals begann landesweit eine rasante Entwicklung, die bis im Grunde heute anhält: Mineralwässer und Fruchtlimonaden gibt es in jedem Haushalt. Damals wie heute schleppen die Menschen Getränkekisten und geben ihre Pfandflaschen wie selbstverständlich zurück.
Doch das war in den Kindertagen des Mehrwegsystems nicht immer so. Eine kuriose Entdeckung im Harsefelder Neubaugebiet „Neuenteicher Weg“ gewährte 2016 ganz intime Einblicke in eine ländliche Mineralwasserfabrikation.
Eigentlich sollte es ein Abschied für immer sein: Es mag ein trüber dunkler Januartag im Jahr 1917 gewesen sein, als Pferdegespanne, schwer beladen mit Körben und Kisten, die von Bäumen gesäumte Straße nach Griemshorst befuhren. Niemand aus dem nahen Dorf sah, was dann geschah: Die Wagen stoppten vor einem von Schilf umrahmten Sumpfloch direkt neben der Straße. Kräftige Hände griffen Körbe und Kisten und leerten den Inhalt in das schwarze Wasser. Scheppernd und klirrend versanken hunderte von Flaschen im Sumpf!
Fast hundert Jahre später durchstreifte ein Sondengänger das Neubaugebiet Neuenteicher Weg an der Griemshorster Straße. Als Ehrenamtlicher der archäologischen Denkmalpflege kontrollierte er Aushub und abgeschobene Flächen nach möglichen Funden.
Und machte eine zunächst banal klingende Entdeckung: Eine alte Müllkippe – mitten auf der Trasse für den Lärmschutzwall. Das Besondere aber – sie bestand dem Augenschein nach nur aus Flaschenbruch. Scherben der einst in Harsefeld ansässigen Mineralwasser-Anstalt „Schröders Erben“, wie an der Prägung zu lesen war.
Gleich drei derartige Familienbetriebe gab es um 1900, wie die Harsefelder Ortschronik berichtet. Neben Schröder gab es noch die an Gasthöfe angeschlossenen Firmen von Lutz und Prüss.
So mancher alter Harsefelder Haushalt hält heute noch Flaschen dieser Ära verwahrt. Mit opulenter Prägung und charakteristischem Klappdeckelverschluss dienten die Gefäße noch lange nach dem Ende der Firmen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als private Saftflaschen.
So zahlreich der gläserne Nachlass, so gering ist bisher die schriftliche Überlieferung. Klar scheint, dass der junge wie geschäftstüchtige Apotheker Johannes Schröder, Sohn des ersten Harsefelder Apothekers Bernhard Schröders, die Idee einer Mineralwasserfabrikation in den Ort trug.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebte die Herstellung von künstlichem Mineralwasser einen gewaltigen Boom. Innerhalb weniger Jahre eroberten günstige Sprudelwässer und Fruchtlimonaden die Haushalte und Gaststätten. Möglich wurde dies durch eine Reihe von Innovationen der Industrie. So gelang es, künstliche Kohlensäure herzustellen und mittels Stahlflaschen in alle Teile des Landes zu liefern.
Die Glasindustrie war durch neue Verfahren imstande, die entsprechenden druckfesten Flaschen zu liefern die mittels eines neuartigen Klappdeckelverschlusses mit Gummiring zu verschließen war.
Dazu gab es neuartige Abfüll- und Mischapparate, die es selbst Laien ermöglichte, in diesen neuen Geschäftszweig einzusteigen. Und wusste ein Fabrikant nicht weiter, boten Vertreter der jeweiligen Lieferfirmen ihre Hilfe an.
Die Apotheker hatten mit ihren chemischen Kenntnissen natürlich die Nase vorn. Wie Johannes Schröder, dessen defekte Klappdeckel zwischen den Flaschen gefunden wurden.
Da die Müllgrube im Bereich eines aufzuschüttenden Lärmschutzwalls lag, musste diese nach Maßgabe der Bauleitung entfernt und der Inhalt entsorgt werden. Die archäologische Denkmalpflege des Landkreises Stade versprach sich einen seltenen Einblick in die Entsorgungspraxis einer ländlichen Mineralwasserfabrik und beobachtete die Aktion.
Die Ausbaggerung des Mülllochs brachte dann ans Tageslicht, was nach dem Willen des einstigen Verursachers für immer beerdigt bleiben sollte: Hunderte meist unversehrter Flaschen fremder Mineralwasserfirmen aus dem gesamtem Elbe-Weser-Dreieck!
Ob Flaschen von Scheruhn / Stade, Steinike & Weinling / Harburg oder Meywald / Buxtehude - statt in den Mehrwegkreislauf zurückgeführt zu werden, wurden die Pfandflaschen, die für die betreffenden Anstalten einen nicht unerheblichen Wert darstellten, buchstäblich bei Nacht und Nebel von der Konkurrenz versenkt!
Was mochte hinter dieser „Beerdigung“ stecken?
Schauen wir zunächst auf „Schröders Erben“. In einem Beitrag von Ute Fromhage in „Geschichte und Gegenwart 2014“, dem Jahrbuch unseres Vereins für Kloster- und Heimatgeschichte, sind die wichtigsten Daten der Erbengemeinschaft umrissen. Denn als Firmengründer Johannes Schröder 1892 mit nur 46 Jahren starb, führten seine Witwe Catharina und seine beiden Schwestern Adelheid und Elise das Unternehmen als „Schröders Erben“ fort.
Die resoluten Damen ließen neue Flaschen mit Firmenlogo herstellen und investierten in ein neues Geschäfts- und Wohnhaus. Das Wasser für ihre Produkte wurde aus einem vor dem Haus befindlichen tiefen Brunnen gepumpt und in den nahen Kellerräumen destilliert, mit Kohlensäure und anderen Subtanzen veredelt und abgefüllt.
Verkauft wurden die Wässer in Pfandflaschen, deren Anschaffung einen beträchtlichen Teil des Betriebskapitals verschlang. Und hier lag ein großes Problem: Der Konsument fand die Flaschen mit ihren Klappverschlüssen so praktisch, dass häufig keine Rückführung erfolgte.
Als Saftbehälter fanden sich bald große Mengen des Flaschenumlaufs in privaten Haushalten. Ein Ärgernis, dem auch nicht mit Prägungen wie „unverkäuflich“ oder „vor Fremdbefüllung wird gewarnt“ beizukommen war. Doch auch aus anderen Gründen waren die Verluste hoch:
Manche zurück gegebene Flaschen waren mit Petroleum oder anderen giftigen Stoffen verunreinigt und mussten aufwändig gereinigt werden. Per Hand versteht sich. So mögen dann Elise, Adelheid und Catharina, mit Schürzen und Bürsten bis spät abends an den Bottichen gestanden haben und ihre Flaschen geschruppt haben. Defekte Verschlüsse wurden außerhalb der Sommersaison an langen Winterabenden wieder repariert bzw. ausgetauscht.
Ein weiteres Problem bildeten die leeren Fremdflaschen, die von der Kundschaft in die firmeneigenen Kisten gemogelt wurden. Jeder Kunde, der heute seine leeren Flaschen zurück in den Getränkemarkt bringt, kennt das Problem.
Eine Aushilfskraft sortiert die Flaschen bei Annahme blitzschnell in die entsprechenden Kisten. Nicht von ungefähr sind daher die heutigen Pfandflaschen größtenteils genormt. Damals war das anders. Wurden lediglich Etiketten geklebt, benutzte der Konkurrent die fremden Flaschen einfach weiter. Bei eingeprägter Beschriftung ging das nicht.
Viele Fabrikanten schlossen sich daher zusammen und legten zentrale Sammellager an, von denen die Irrläufer zurück in die jeweiligen Unternehmen geführt wurden. Vereinbart und verboten aber war, fremde Flaschen zu verwenden oder gar Hand an sie zu legen.
Und genau das geschah bei „Schröders Erben“.
Als zu Beginn des 1. Weltkriegs der Absatz einbrach und die Beschaffung der Verschlüsse und Dichtungsringe aus Gummi schwierig wurde, bediente man sich aus der Not heraus des eingelagerten Fremdgutes. Die Gummis wurden geklaut, Klappdeckelverschlüsse wurden demontiert, die beschrifteten Porzellandeckeln abmontiert und mit eigenen versehen. Vermutlich verfuhren andere Fabrikanten in ihrer Not ähnlich.
Am Ende blieben hunderte gefledderte Fremdflaschen zurück, die wohl in die hintersten Ecken des Lagers verschwanden.
Als zu Beginn des Jahres 1917 „Schröders Erben“ verpachtet wurde, mochten die Inhaberinnen dem neuen Pächter die „Flaschensünde“ vermutlich nicht offenbaren und entsorgten die Fremdflaschen, bedeckt mit hauseigenem Flaschenbruch, in einem Wasserloch auf einem ebenfalls hauseigenen Acker, der zum Verkauf anstand.
Als dieses Feld ebenfalls 1917 den Besitzer wechselte, war die Stelle schon mit Erde abgedeckt und alle Spuren getilgt.
Der Beitrag erschien zuerst in GuG 2016. Ein weiterer Beitrag in GuG 2017.
Ausbaggern der wassergefüllten Müllkippe direkt an der Griemshorster Straße.
Foto: D. Alsdorf.
Viele der vergrabenen Flaschen waren unversehrt, jedoch ohne Verschlüsse.
Foto: D. Alsdorf.
Foto: D. Alsdorf.
Foto: D. Alsdorf.