Die Kapelle St. Johannis ...

... und die Gruft des Erzabt Gerlach Schulte

Von Dietrich Alsdorf


Es ist eine eher unscheinbare graue Grabplatte, die heute in der Kirche an den ersten Harsefelder Erzabt Gerlach Schulte erinnert. Mit ihren Maßen von 2,54 x 1,70 m und ihrem Alter von über 600 Jahren ist sie die älteste Grabplatte im Landkreis Stade. Der Betrachter, der vor der an der Wand gleich rechts vom Eingang befestigten Platte steht, erkennt die Ritzzeichnung eines auf einem kleinformatigen Fliesen stehenden Erzabtes mit dem Krummstab in der Hand.

Die Grabplatte des Gerlach Schulte an ihrem heutigen Platz in der Kirche.

Kohleabrieb der Grabplatte.

Fast wäre die Grabplatte verloren gegangen. Bereits im 18. Jahrhundert aus der Kirche verbannt, stand sie – in der Mitte gesprungen - bis Mitte der 1960iger Jahre draußen quer an der Südwand des Kirchenschiffs. Im Verlauf der umfassenden Renovierung zu jener Zeit wurde sie entfernt und zerbrach in drei Teile. Die Bruchstücke wurden an einen Baum neben dem Ehrenmal abgelegt – und vergessen. Erst gegen Ende der 1970er Jahre wurde das Stück restauriert und wieder in die Kirche zurückgeführt.


Bis in die 1960er Jahre befand sich die Grabplatte außen an der Kirchenwand. (Foto: Samtgemeindearchiv.)

Von 1357 bis 1440 standen mit Werner, Gerlach und Johannes drei Äbte aus dem Geschlecht der Schulte von der Lühe an der Spitze der Harsefelder Benediktiner.
Die Schultes waren bremische Ministerialen (Angehörige des mittelalterlichen Dienstadels) und hatten ihren Sitz u.a. auf der Horneburg. Die Familie hatte es bei der Besiedlung des Sietlandes der Elbmarschen zu Vermögen und Einfluss gebracht.
Ihre für ihren Stand ganz ungewöhnliche politische und ökonomische Macht wurde schon 1274 deutlich, als sie in der Lage waren, allein aus ihren Eigengütern in Neuenkirchen im Alten Land ein Benediktinerinnen-Kloster zu begründen, dass 1286 nach Bredenbeck, dem heutigen Neukloster, verlegt wurde


Das mittelalterliche Taufbecken von Neukloster.

Gerlach stand seinem Konvent 43 Jahre vor, länger als jeder andere Harsefelder Abt. Unter ihm wurde das Kloster zum größten Grundherrn im Alten Land, erlangten die Harsefelder Äbte das Recht, die Pontifikalinsignien eines Bischofs (Bischofsstab, -ring, -mütze, -strümpfe und –schuhe) zu tragen und gewannen eine erweiterte geistliche Gerichtsbarkeit. Seit Gerlach trugen die Äbte den Titel Erzabt und wurden zu geborenen Präsidenten der Bremischen Landstände.
„Gerade am Tage der Jungfrau und Märtyrerin Barbara im 1410. Jahr nach der jungfräulichen Geburt, so vermerkt die Klosterchronik, „sei er den Weg des Fleisches gegangen.“ Gerlach Schulte wurde „mit der höchsten Feierlichkeit in der Kapelle des Evangelisten St. Johannis“ bestattet worden.
Erst 1539 wurde der Erzabt in die Klosterkirche umgebettet.
Im Hinblick auf die ausnahmslos zerstörten Erzabt-Grüfte in der Klosterkirche während aller drei Umbaumaßnahmen – zuletzt 1966 – ergab sich zu Beginn der Grabungen 1981 die spannende Frage, ob es gelingen würde, die erste Grablege dieses bedeuteten Erzabtes aufzufinden. Und gleichzeitig das dann innerhalb der Klosterklausur verorteten Gebäude als die verschollene St. Johannis-Kapelle zu identifizieren.
Die Kapelle wird 1396 erstmalig erwähnt und lag am Kreuzgang des Klosters. Pastor Wohlers wusste 1716 von dem 1711 eingefallenen Gebäude, „welches westwärts von der königlichen Kirche nur wenig Schritte gestanden, in welcher bis gegen Ausgang des ausgewichenen Saeculi der römisch-catholische Gottesdienst noch gepflegt und gehalten ist, nichts gründliches und denkwürdiges anzuführen.“


Diese Feldsteinmauer westlich der Kirche war letzter Baurest der Johanniskapelle Foto von 1952. (Foto: Tamke.)

Die katholische Heilige Messe in Harsefeld? Jahrzehntelang nach der Auflösung des Klosters? Tatsächlich verließ erst 1690 der letzte katholische Pater namens Hauer den Ort. Lange Zeit hatte er in der Kapelle im Auftrag der katholischen Familie Bidal, die seit 1654 Eigentümer der Klosterliegenschaften waren, den Gottesdienst abgehalten.
Wie die Kapelle zu jener Zeit ausgestattet war, welchen vielleicht kostbaren Altar sie verwahrte, wissen wir nicht. Erwähnt wird, dass der letzte Pater noch einen Leuchter aus der Kapelle mitgehen ließ (!)
Was blieb von der Kapelle? Auf keinem der zahlreichen Amtshofpläne ist das Bauwerk vermerkt. Dabei gab es einen deutlichen Hinweis: Westlich der Kirche, zwischen dem ehemaligen Kirchhof und dem ehemaligen Amtsgarten hatte sich eine Feldsteinmauer erhalten, über deren Bedeutung sich ungezählte Heimatfreunde ihre Gedanken gemacht hatten. Sollte es sich hierbei um eine Wand der verschollenen Kapelle handeln.


Der Verfasser in der Gruft von Gerlach Schulte 1982.

Grund genug, seitens der Stader Kreisarchäologie am 11. Mai 1981, wenige Tage vor Beginn der offiziellen Grabung eine Sondage durchzuführen. Es war der erste archäologische Einstieg in die Klosterzeit und war sofort von Erfolg gekrönt. Nördlich der Feldsteinmauer wurde rund einen halben Meter unter dem Niveau des einstigen Schulgartens ein Pflaster aus sorgfältig verlegten Backsteinen gefunden, dass zu einem nördlich anschließenden Raum des Klosters gehörte. An der Ostseite führte eine aus Backsteinen gemauerte Treppe hinab in den dort vermuteten Kreuzgang.


So fing alles an: Die erste Sondage an der alten Kapellenmauer im Mai 1981.

Wenige Tage später begannen genau dort die ersten Abtragungsarbeiten. Schon nach sehr kurzer Zeit bildete sich nördlich der besagten Mauer ein Richtung Amtshof verlaufender Flügel der Klosterklausur heraus, vorgelagert vom westlichen Teil des Kreuzgangs. Um diesen bis zu seinem Ende zu verfolgen, mussten erhebliche Mengen an Erdreich in nunmehr unmittelbarer Nähe des Kirchturms abgetragen werden. Bei diesen Arbeiten wurde nicht nur der Übergang des westlichen Kreuzgangs in den südlichen Umgang entdeckt, sondern auch die erwartete Ostmauer der Kapelle. Eine massive, ebenfalls aus Feldstein errichtete Mauer, in der sogar ein urgeschichtlicher Rillenstein verarbeitet war (heute im Steinpark am Museum). Doch einer weiteren Freilegung des Innenraums stellte sich der dortige alte Baumbestand entgegen.


Beginn der Grabungsarbeiten an der Kapellenmauer 1981.


Von der Mauer ausgehend wurde der Boden zunächst Richtung Amtshof abgetragen.


Der südliche Kreuzgang und die Kapellenostwand werden entdeckt.

Zu einer vollständigen Freilegung der Kapelle kam es erst im folgenden Jahr 1982. Nach einer Entscheidung des Gemeinderats musste eine alte Kastanie, eines der schönsten Bäume des Fleckens, den Grabungen weichen.
Danach begann eine wochenlange Handarbeit, nicht nur das gewaltige Wurzelwerk von den Fundamenten zu befreien, sondern auch den Wurzelteller selbst, der in den Nordeingang des Gebäudes hineingewachsen war, mittelst Hebel und Muskelkraft vorsichtig umzukippen.


Mühsame Freilegungen im Frühjahr 1982.

Der ehemalige Kapellraum mit 9,50 Meter in der Länge und 5,50 Meter in der Breite war mit einer meterdicken Schutt- und Erdschicht aufgefüllt. Hinzu kam, dass dort während der Bauzeit des heutigen Kirchturms Materialien gelagert und ein Schuppen errichtet wurde.
Zuvor aber war der Kapellenraum in den Gemeinde-Kirchhof integriert worden. Nach dem Einsturz des Gebäudes im Jahre 1711 hatte man die Mauern bis auf die Nordmauer abgetragen und den Fliesenfußboden entfernt.
Bis zur Aufhebung des Kirchhofs im Jahre 1842 fanden hier Angehörige des Amtes ihre letzte Ruhe. Der Bereich westlich der Kirche war allgemein den Beamten und Bediensteten, aber auch den im Flecken lebenden Offizieren vorbehalten. Während der Freilegungen konnten sechs Gräber sowie zahlreiche Skelettreste aus zerstörten Gräbern geborgen werden.


Gräber innerhalb der Kapelle aus der Amtszeit.

Die spannende Frage für den Verfasser aber war: Wo befand sich die Gruft von Gerlach Schulte? War sie vielleicht im Zuge der Abbrucharbeiten zerstört worden?


Im Zentrum der Kapelle wurde eine „verdächtige“ Häufung von Findlingen festgestellt.

Schon während der ersten Abtragungsarbeiten zeichnete sich in der Mitte des Kapellenraumes ein Bereich ab, in dem Findlinge und Bauschutt besonders tief eingelagert waren.
Als auf der Höhe der erhaltenen alten Oberfläche, die sich als schwarzes humoses Band flächendeckend abzeichnete, eine offensichtlich in Ost-West-Richtung verlaufende Eingrabung bemerkt wurde, die auch hellen gelben Sand, aber auch die genannten schweren Findlinge enthielt, schien es offensichtlich, dass wir die Grablege gefunden hatten!


Die verfüllte Grube für die Gruft des Gerlach Schulte wird in Fläche und Profil sichtbar. Sie ist mit Füllsand, aber auch groben Findlingen verfüllt.

Vorsichtig wurde die Grube ausgenommen. Die Findlinge entpuppten sich als Bestandteile des Kapellen-Mauerwerks, dass im Zuge des Abbruchs, welcher nur nach innen erfolgen konnte, da außerhalb dicht an dicht die Gräber des Kirchhofs lagen, infolge ihres Gewichts in den an dieser Stelle nicht verdichteten Fußboden einbrachen und daher nicht abgeräumt wurden.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass auch keine Gewölberippensteine in großer Zahl gefunden wurden, was bedeutet, dass das Bauwerk zum Zeitpunkt des Abbruchs bzw. Einsturzes kein Gewölbe mehr besaß.
Die Findlinge, offensichtlich aus der Südwand, hatten den mit grün und gelb glasierten Fliesen belegten Boden mit in den Untergrund gedrückt. Der gelbe leichte Sand war in die nunmehr sichtbare, aus Ziegeln gemauerte Gruft eingefüllt worden, als der Sarg des Gerlach Schulte im Jahre 1539 feierlich in eine Gruft in der fertig gestellten Klosterkirche umgebettet wurde. Dort, vor dem Hochaltar befand sich die Grablege aller Harsefelder Erzäbte.
Die Innenmaße der aus Backsteinen gemauerten Gruft betrugen 2,15 Meter in der Länge und 0,75 Meter in der Breite und war mit Ziegeln gepflastert. Ursprünglich bis zur Höhe der aufliegenden Grabplatte gemauert, war sie im Zuge der Umbettung bis auf wenige Ziegellagen abgebrochen – gerade so tief, dass die Mönche den flachen Kastensarg anheben konnten.
In der Gruft fanden sich nicht geringsten Spuren von Holz, was darauf schließen lässt, dass der Sarg noch gut erhalten war. Man hat nach der Zeremonie die Grube mit reinem, von außen herbei geholtem Sand verfüllt und die Freifläche, die durch die in die Klosterkirche überführte Grabplatte entstanden war, mit den farbig glasiertem Fliesen dem übrigen Fußbodenbelag angepasst.


Die freigelegte Gruft des Gerlach Schulte.

Wie sah nun die Kapelle in der Klosterzeit aus? Der Feldsteinbau war verputzt, und sollte mittelst eingeritzter Fugen ein Gebäude aus Quadern imitieren. Im Westen, also in den „weltlichen“ Bereich außerhalb der nur den Klerikern vorbehaltenen Klausur befand sich ein repräsentatives Säulenportal das in die Zeit des 12. Oder beginnenden 13. Jhd. weist, eine Entstehung vor 1100 wird ausgeschlossen.
Später jedenfalls, das haben die Funde gezeigt, wurde dieses Säulenportal ersetzt durch ein gotisches Stufenportal. Nach Norden führte eine schmale Tür in den dahinter angrenzenden Raum des Westflügels, der allgemein als Laientrakt, also auch Menschen wie Pilgern oder Besuchern zur Verfügung stand. Die Nähe zur Küche (im heutigen Amtshof) lässt vermuten, dass dort vielleicht Armenspeisungen stattfanden.


Rekonstruktion der 1. Bauphase.


Rekonstruktion der 2. Bauphase.


Die vollständig freigelegte Kapelle 1982.

Der Kapellengrundriss wurde im Rahmen der Platzgestaltung wieder hergestellt und sichtbar gemacht. Die Gruft wurde verfüllt und ist nicht sichtbar. Im Museum zeigt ein Modell den Zustand bei Abschluss der Grabung.