Sagen und Mythen - „Etwas Lebendes muss in die Mauer“ – das Bauopfer von Bliedersdorf.

Erzählt von Dietrich Alsdorf

Bliedersdorf um 1240: Seit Wochen schon bestimmten der Lärm des Hämmerns und das Schlagen von Steinen das stille Dorf im Auetal. Hoch auf dem Burgberg wuchs zu Ehren des Erlösers ein mächtiger Bau aus Stein in den Himmel.
Ritter Iwan von Bliedersdorf, Burg- und Lehnsherr des Dorfes und seiner Bewohner hatte sein Gelübde erfüllt, in dem er auf Grund und Boden seiner Burg begann, ein Gotteshaus zu errichten.
Zur Lobpreisung des Herrn und als Dank, unversehrt aus der furchtbaren Schlacht gegen die Stediger in der Wesermarsch heimgekehrt zu sein.
Eine Schlacht, in der gar ein Heer der Kreuzritter zur Hilfe eilen musste, um die gotteslästerlichen wie aufsässigen Bauern niederzuringen. Noch auf blutiger Stätte wurde Iwan vom Erzbischof zum Ritter geschlagen.

Nun also bevölkerten fremde Bauleute den Burghügel. Wilde Gesellen waren das, die es gewohnt waren, den Stein so zu behauen, dass fast glatte Wände entstanden. Von der Küste wurden Wagenladungen voller Muscheln angefahren, die es zu mahlen und zu Kalkmörtel zu verarbeiten galt. Alle Bewohner Bliedersdorfs waren in diesen Prozess eingebunden, jeder nach seinen Möglichkeiten. Während die Männer unablässig damit beschäftigt waren, in der Umgebung nach Steinen zu suchen, hatten die Frauen für die Fremden zu kochen.

Ritter Iwan ritt alltäglich auf die Baustelle, um nach dem Fortschritt zu sehen. Seinen Bauern versprach der hohe Herr, den Burghügel von den Palisaden zu befreien und zum einem Kirchhof für alle weihen zu lassen. Unter dem Schutz der Heiligen Katharina, nach der die Kirche geweiht werden sollte.

Ein Mönch aus dem benachbarten Harsefeld führte jeden Morgen vor Baubeginn eine kostbare Monstranz mit einer Reliquie der Heiligen umher. Ein Splitter eines jener zwei Räder, mit der die geweihte Jungfrau einst zu Tode gequält werden sollte. Doch ein Engel, so hieß es, stieg herab, und zerstörte beide Räder mit solcher Wucht, dass auch 4000 Heiden dabei auf der Stelle getötet wurden.

Doch seit Tagen kam der Bau nicht voran. Besorgt blickten die Frauen hinauf zum Burghügel, wo immer häufig heftiges Geschrei der Bauleute zu vernehmen war, wenn wieder einmal die in Schalung gefügten Steinmauern auseinanderbrachen. Ja – ganze Mauersegmente in sich zusammenstürzten. Mancher der Bauern, die auf der Baustelle arbeiteten, kamen mit blutigen Wunden oder auch gebrochenen Armen auf den Hof zurück.

Dieses Schicksal ereilte auch die junge Bäuerin Beke. Erst am Vortag kehrte ihr Mann mit gebrochenem Arm von der Baustelle zurück. Mit Wundfieber lag er auf dem Lager, während sich heilkundige Frauen aus dem Dorf um ihn kümmerten. Doch wer sollte sich bald um die Ernte kümmern? Der Sommer ging und das Getreide stand schon reif auf den Feldern.
Während am Krankenlager ihr Mann unter den Schmerzen stöhnte, trat kein Geringerer als Ritter Iwan, gefolgt von einem der Baumeister, in das ärmliche Haus.
Beke erschrak und wollte sich erheben, um den hohen Herren die nötige Ehrerbietung zu erbringen.
„Bleib sitzen Weib“, meinte der Ritter und beugte sich über den Kranken. „Der Bauer ist verletzt, wie mir mein Baumeister meldete?“
„Der Arm ist gebrochen“, flüsterte Beke unsicher.
„Das ist nicht gut“, murmelte der Ritter nachdenklich. „Der Bau verlangt nach jeder Hand. Wenn der Winter kommt, muss das Dach über der Kirche stehen, sonst war alles umsonst. Das Wasser dringt in die Mauern und bringt sie zum Bersten.“
„Der Kalk…“, flüsterte der Bauer, „der Kalk vermag die Steine nicht zu halten.“
Ritter Iwan nickte. „Recht hast du Bauer. Es ist zum Verzweifeln. Es ist so, als hätte der Teufel seine Hand im Spiel.“
Dabei warf er dem Baumeister einen strafenden Blick zu.
„Das harte Wetter trägt die Schuld“, versuchte sich der Baumeister zu rechtfertigen.
Tatsächlich hatte es schwere Unwetter und Überschwemmungen gegeben. Dennoch, Iwan war skeptisch. Warum ging es mit dem Aufbau der Seitenmauern nicht voran? „Das Werk muss vollendet werden!

Beke begann, sich Schuldig an dem Unglück ihres Lehnsherrn zu fühlen. Wie konnte sie den Ausfall ihres Gemahls ausgleichen?
Der Baumeister hatte schon längere Zeit den blonden Jungen beobachtet, der auf der Diele spielte.
Beke war das nicht aufgefallen, da sie nur furchtsame Augen für ihren Lehnsherrn hatte.
„Gib uns den Jungen“, hörte sie den Baumeister. Und übersah den eigenartigen Glanz in dessen schwarzen Augen.
„Was wollen wir mit dem Kind“, fragte der Ritter ungehalten. „Der hier ist keine fünf Jahre alt und vermag uns auf der Baustelle keinen Nutzen zu bringen. Müssen gar aufpassen, dass er uns nicht in den Kalk fällt.“

Beke bemerkte, wie der Baumeister auf ihren lütten Hinnerk zuging und mit der Hand an der Kleidung packte.
Sie wollte sich schützend dazwischenwerfen, doch Ritter Iwan hielt sie zurück. „Gemach, Weib, wenn der Baumeister einen Nutzen in deinem Sohn sieht, so lass ihn gewähren. Das Werk muss vollendet werden! Bei Gott, ich hab’ s dem Allmächtigen gelobt.“
Beke spürte den durchdringenden Blick ihres Lehnsherrn. „Im Wogen der Schlacht, als wir bedrängt wurden, als von allen Seiten die Stedinger auf uns eindrangen, bat ich dem Allmächtigen in höchster Not um Rettung und gelobte die Stiftung einer Kirche zu seinen Ehren, wollte er das Blatt wenden. Weib – sag mir, soll ich mein Gelübde brechen, nur damit dein Sohn nicht seine Kraft beim Bau unserer Kirche einbringt?“
„Nein, nein“, verzeiht mein Herr“, weinte Beke. Und während der Baumeister ihren einzigen Sohn aus der Kate zerrte, spürte sie die Hand ihres Lehnsherrn auf der Schulter.
„Es soll dein Schade nicht sein“, versprach er, „ich lass einen Medicus für den Bauern kommen.“
Ritter Iwan von Bliedersdorf hielt sein Wort. Noch am Abend erschien ein Medicus aus dem Harsefelder Kloster und schiente fachkundig den Arm des Bauern und verabreichte fiebersenkende Arzneien.

Während in der Nacht Beke am Krankenlager ihres Mannes wachte, fiel ihr auf, dass Lütt Hinnerk noch gar nicht nach Hause gekommen war. Sie erhob sich und trat aus der Kate. Oben auf dem Burgberg loderten die Feuer der Bauleute. Sie sangen ihre fremden Lieder wie an jeden Abend. Voller dunkler Vorahnungen nahm sie all ihren Mut zusammen und betrat die Baustelle.

Weib, was ist dein Begehr?“, fragte einer der Steinmetze gleich am Eingang des Lagers. Mit einem Hammer beschlug er die Findlinge so, dass stets eine glatte Seite entstand.
„Ich suche meinen Lütten“, erwiderte sie und zeigte mit der einen Hand etwa die Größe von Lütt Hinnerk an.
„Am Tag waren hier manche Kinder“, wich der Steinmetz aus. „Sind sicher nach Haus gelaufen.“
„Meiner nicht!“ rief Beke. Ein seltsames, unbeschreibliches Gefühl stieg in ihr auf.
„Ich kann dir nicht helfen“, meinte der Steinmetz und wandte sich seiner Arbeit zu.

Beke lief weiter hinein ins Lager, stolperte in der Finsternis über Steine und Gerüstbretter. Fragte vergebens die an den Feuern lagernden Handwerker und rief Hinnerks Namen laut in die Dunkelheit.
Schließlich stand sie vor der schwarzen Wand, die eine der Kirchenwände in den Nachthimmel zeichnete. „Hinnerk, mien Lütten“, rief sie die eingerüstete Mauer empor. Es kam keine Antwort.

„Geh heim, Weib“ hörte sie eine Stimme aus dem Dunkel. Als sie näher an die schwarze Gestalt heranging, sah sie den Mönch, der jeden Morgen die Reliquie der Heiligen Katharina um die Baustelle trug.
„Dein Sohn wird sich verlaufen haben“, meinte der Mönch. „Hier ist er jedenfalls nicht. Bei Gott, geht und vertraut auf die Worte des Herrn. Dieses Werk hier geht morgen einer schweren Prüfung entgegen. Der Altarraum, die Heimstatt der Reliquie, wird mit einem steinernen Gewölbe geschlossen. Sollte die Wölbung gelingen, wird am Katharinentag die Kirche geweiht werden können. So Gott helfe.“ Der Mönch bekreuzigte sich und verschwand im Dunkel.

Nach einer durchwachten Nacht stand Beke schon bei Sonnenaufgang vor dem Hof. Doch von lütt Hinnerk fehlte jede Spur. Auch andere Kinder des Dorfes, die auf der Baustelle halfen, vermochten sich nicht an seinen Verbleib erinnern. Der gestrige Abend hatte ihn verschluckt. Und gab ihn nicht wieder her.

Für Beke blieb die Baustelle versperrt. Nichts sollte auf Geheiß des Lehnsherrn fortan die Arbeit der Bauhütte stören. Schon gar nicht das Gejammer der Beke. Bei der feierlichen Zeremonie anlässlich der Schließung des Gewölbes waren nur der Bauherr neben seiner Familie und die Schar der Handwerker zugelassen.

Nach Tagen voller Hoffen und Bangen nahm sich Beke allen Mut zusammen und wagte es, den Ritter persönlich auf das Verschwinden ihres Lütten anzusprechen. Zu ihrer Überraschung stieg der hohe Herr von seinem Pferd.

„Der Bau geht seiner Vollendung entgegen“, erzählte er stolz und zeigte den Berg hinauf. „Ein Wunder ist geschehen. Siehe Weib, die Zimmerleute richten den Dachstuhl auf. Morgen kommen aus Harsefeld die Dachziegel. Dann kann uns das Wetter nichts mehr anhaben.“
„Mein Lütter ist noch nicht zurück!“
Ritter Iwan wich dem flehenden Blick der Bäuerin aus. „Er wird sich verlaufen haben. Es wurden Wölfe gemeldet.“

Doch Bekes Sohn kehrte nicht mehr heim.
Nicht mehr im Sommer und auch nicht im Herbst. Während das Gotteshaus Gestalt annahm und am Katharinentag feierlich der Märtyrerin geweiht wurde, strich Beke suchend um die Kirche herum.
Mit beiden Händen betastete sie das unregelmäßige Mauerwerk und flüsterte unentwegt den Namen ihres Sohnes. Die Menschen im Dorf schüttelten die Köpfe über das törichte Verhalten der Bäuerin, die angesichts des Verschwindens von lütt Hinnerk den Verstand verloren hätte. So sah man Beke Tag um Tag um die Kirche streichen. Bis eines Abends ein schriller Schrei durchs Dorf gellte.
Waren Wölfe ins Dorf gekommen? Die Männer packten ihre Forken und Knüppel und liefen auf den Kirchhügel.
Außen vor dem Gotteshaus, dort, wo im Innern ein kühner Bogen aus Stein die Apsis vom Altarraum trennt, sahen sie Beke an der Kirchenwand kauern – ein kleines Stück Wolle in der Hand.
Stumm zeigte sie an jene Stelle im verputzten Mauerwerk, wo Wollfäden, aus dem Kalkmörtel herausragten. Die Männer nahmen stumm ihre Mützen vom Kopf. Und alle wussten, was Beke unentwegt in den Abend schrie: Man hatte ihren Sohn eingemauert.

Bauopfer in vielen Variationen wurden schon seit dem Altertum zum Schutz von Häusern dargebracht. Es sollte den Bestand des Gebäudes sichern und vor Unheil bewahren. Mancher Aberglaube hat sich bis in die Neuzeit gehalten. Im Mittelalter wurden zum Beispiel in England Katzen eingemauert, um das Haus vor Mäusen zu schützen. Denken wir an Theodor Storm und seinen „Schimmelreiter“, wo es heißt, dass etwas Lebendiges in den Deich müsse, damit er bei einer Sturmflut nicht breche, sind wir schon schnell bei dem Knaben von Bliedersdorf.
Der mit Sicherheit Illegal in die Mauern gelangte. Kaum vorstellbar, dass der Abt des Harsefelder Klosters derartige heidnischen Rituale toleriert hätte.
Das Motiv allerdings liegt auf der Hand: Findlingsbauten waren aufwändige Projekte, deren Ausführung in Händen auswärtiger Baumeiter lagen, die im Hinblick auf ihre wohlhabenden, wie mächtigen Auftraggeber ein hohes Interesse hatten, ihrem Bau Beständigkeit zu verleihen.
Möglichst bis zum jüngsten Tag, denn die Kirche war auch Grablege der Adelsfamilie. Warum nun gerade in Bliedersdorf ein Menschenopfer erforderlich schien, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Lag es an einem schlechten Baugrund? Immerhin, so viel ist bekannt, brach später das Gewölbe des Altarraumes in sich zusammen, weil eine der Mauern stark ausgewichen war.

Die Sage könnte aber auch einen ganz profanen Hintergrund haben, in dem das Kind, das wie üblich im Mittelalter allgemein in den Arbeitsprozess einbezogen war, vor Ort verunglückte und im Fundament  - zur Besänftigung „böser Geister“ – heimlich eingemauert wurde.
Jedenfalls gibt es mehrere Versionen der Sage. In der wohl jüngsten Variante soll es ein neugieriger Schneider gewesen sein, der des Nachts heimlich das geheimnisvolle Treiben von Engeln beobachtete, die beim Bau halfen.


Quellen:
Wohltmann, Hans: „Der neugierige Schneider von Bliedersdorf“; in: Sagen aus dem Lande zwischen Niederelbe und Niederweser, Band 1, Stade 1959: S. 94-95.
Wohltmann, Hans: „Bauopfer in Bliedersdorf“; in: Sagen aus dem Lande zwischen Niederelbe und Niederweser, Band 2, Stade 1963: S. 87.


Die Katharinenkirche zu Bliedersdorf auf dem Burghügel. © Foto: D. Alsdorf.








Die Katharinenkirche zu Bliedersdorf auf dem Burghügel.
© Foto: D. Alsdorf.

 

Bauopfer im Kloster? Nahe des Brunnenhauses am nördlichen Kreuzgang wurde 1981 ein vielleicht rituell? vergrabenes Nutztier gefu







Bauopfer im Harsefelder Kloster? Nahe des Brunnenhauses am nördlichen Kreuzgang wurde 1981 ein vielleicht rituell vergrabenes Nutztier gefunden.
© Foto: D. Alsdorf.