Sagen und Mythen - Der unterirdische Gang.

Von Dietrich Alsdorf
Für die Webseite aufbereitet von Jörg Heins

Wohl jedem älteren Dorf, dass noch über alte Gemäuer wie Herrenhäuser, Klöster und Kirchen verfügt, wird die Existenz eines „unterirdischen Gangs“ nachgesagt.
Ein Gang, der in Zeiten der Not einer vom Feind eingeschlossenen Festung die Flucht ermöglicht. Oder amourösen Zwecken Vorschub leistet. Wie in Harsefeld: Ein heimlicher Gang, in der die Mönche heimlich, vom Abt unbemerkt, sich aus der Enge klösterlicher Gemeinschaft befreiten, um sich mit einer holden Jungfer aus dem Dorf, oder noch besser, tugendsamen Jungfer aus einem der zahlreichen Nonnenklöster zu einem Techtelmechtel weit draußen im Wald, am besten noch an der liebesstiftenden Rosenbornquelle zu treffen und sich ewiglich Treue zu schwören.
Abgesehen davon, dass sich ein Mönch nicht unbemerkt von seinen Brüdern entfernen konnte, weil man sich beständig beobachtete und der strenge Tagesablauf solche Abenteuer eher in die Träume einer kurzen Nachtruhe verbannten, haben alle diesbezüglichen Geschichten eines gemeinsam – sie sind frei erfunden.
Auch ich wurde vor rund 60 Jahren veräppelt, als Gastwirt Toleikis im Brustton der Überzeugung behauptete, unter dem großen Findling auf der Kuppe der Eiskuhle wäre der Ausgang jenes berühmten wie sagenumwobenen unterirdischen Ganges, über den die Mönche heimlich ihren Schäferstündchen frönten. Aus Sicherheitsgründen hätte der Gastwirt höchstselbst die Steinplatte über den Ausstieg gelegt.

Endet hier der unterirdische Gang? Die geheimnisvolle Steinplatte auf dem Hügel der Eiskuhle.
Foto: D. Alsdorf

Die recht kahle Anhöhe der Eiskuhle. Foto: D. Alsdorf

Was soll ich sagen. Natürlich haben mein Freund und ich unverzüglich versucht, mit noch bescheidenen Grabwerkzeugen den Gang unter dem Findling frei zulegen.
Doch es war wie allgemein beim Ausgraben von Schätzen: Wenn man nicht dabei schweigt, versinkt der Schatz ins Reich der Zwerge. So erging es uns auch damals. Das man auch seinen Mund nicht halten kann!
Immerhin: Rund 900 Meter Luftlinie hätten sich die liebeskranken Mönche durchgraben müssen, vom Kloster bis hinauf zur Eiskuhle auf dem Steinfeld. Unter die damals dort vorhandenen Fischteiche hindurch! Sportlich.
Zeitsprung. Als ich 1981, mit der Ausgrabung des Klosters betraut, auf dem ehemaligen Schulhof der einstigen Mittelschule stand und sich der Bagger langsam beim Bodenabtrag immer dichter an den Amtshof heran arbeitete, fanden sich sogleich mehrere Damen ein, die mich energisch darauf aufmerksam machten, dass sich dort der Eingang des sagenumwobenen Ganges befinden würde und noch Zeitzeugen zu benennen wussten, die dort mit Pferd und Wagen bis hinauf zum zweiten Ausgang des Ganges, der Kuppe des Wullberges am Oberen Friedhof gefahren sind. Immerhin nur 420 Meter Luftlinie und ganz ohne Untertunnelung eines Feuchtgebietes.
Was soll ich sagen: Der besagte Gang wurde nicht gefunden. Zur allgemeinen Enttäuschung der Zaungäste. Doch eine mögliche Lösung des Rätsels trat zutage: Im Gefängnisverlies wurde ein nur unzulänglich vermauerter Ausgang entdeckt! Ausgekratzte Fugen und ausgebrochene Ziegel belegen, dass hier so mancher Traum einer Flucht zerrann. Der besagte Ausgang führte ins Nichts – in einen schon in der Klosterzeit abgebrochenen Ofen für die Fußbodenheizung des in den darüber liegenden Kapitelsaal.


Der nur flüchtig vermauerte Ausgang im Verlies des Gefängnisses während der Ausgrabungen.
Foto: D. Alsdorf

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Es gab keinen derartigen Gang! Dabei hätte die Mönchsgesellschaft im 16. Jhd. einen solchen Fluchtweg gut gebrauchen können. Zwei verheerende Überfälle des Ritters Pentz brachten das Kloster an den Rand des Untergangs. Die Mönche flohen in den Turm der Kirche und warfen erfolgreich Steine auf die Angreifer.