Fragen und Antworten rund um die Biografie der Marlene Prink.

Von Dietrich Alsdorf, für die Webseite aufbereitet von Jörg Heins

Hatte die „rote Lena“ tatsächlich rote Haare?

Das wissen wir nicht. Es gibt keine Schriftquelle, die dieses behauptet oder verneint. Allerdings sprachen beide 1969 bzw. 1981 befragten „Zeitzeugen“, eigentlich Enkel jener Menschen, die der Hinrichtung beiwohnten, von der „Roten Marlene“, aus der später die moderne Kurzform „Rote Lena“ wurde.
Selbst nannte sie sich „Magdalena“, was sich durch mehrfache Nennung in den Gerichtsakten eindeutig belegen lässt. Im Taufregister der Kirche zu Elstorf steht „Anna Marlene“.

Die Kirche zu Elstorf.
Foto: Alsdorf

Der Richthügel bei Ohrensen wurde später von den Menschen als „Marlenenbarch“ bezeichnet. Woher wusste der Volksmund, die breite Öffentlichkeit, ihren Vornamen?

Der Name war der Harsefelder Bevölkerung in der Mehrheit unbekannt. Man nannte die Verurteilte abfällig „Prinksche“ oder „Giftmischerin“. Die Benennung des Hügels erfolgte wohl über die Inschrift „Marlene“ eines von Freunden oder/und Angehörigen gesetzten Holzkreuzes oder Steins, mit dem das am Hügelrand gelegene Grab markiert wurde.
Es ist abwegig anzunehmen, dass ihre Nächsten, vor allem ihre ältesten Kinder, das Grab ihrer Mutter später nie besucht haben. Schriftquellen dazu gibt es allerdings nicht. Es kann sein, dass das Amt Harsefeld eine Markierung des Grabes stillschweigend duldete. Jedenfalls blieb der fortan ungenutzte Richthügel noch bestehen und wurde wohl erst mit der Kultivierung der Anhöhe gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgetragen und eingeebnet.
Die Erfindung eines eigenen Flurnamens für einen Richtplatz ist für den Stader Raum übrigens eine Ausnahme. Weder das Grab von Anna und Claus Meyer inmitten des Richthügels von Himmelpforten, noch die Gräber von drei weiteren Gerichteten, darunter der jungen Anna Brümmer aus Balje bei Riensförde, wurden mit eigenen Flurnamen belegt.

Die ehemalige Lage des Grabes heute.
Foto: Alsdorf

Im Roman wird mehrfach ansatzweise die Landschaft beschrieben, in der sich die Protagonistin bewegt. Sah die Landschaft im Elstorfer Raum damals grundsätzlich anders aus als heute?

Die Landschaft war geprägt von weiten Heideflächen, die weitgehend baumlos waren. Schafherden hielten das Heidekraut kurz. Daneben gab es Bereiche mit „Stühbusch“, niedrige Eichen- und Birkenbüsche.
Die Wege waren breite sandige Pisten, die, tief von den Fuhrwerken ausgefahren, oft nur schwer passierbar waren. Zu Lenas Zeiten wurden manche Trassen bereits mit Feldsteinen gepflastert. Begleitet wurden solche Wege und Straßen mit schmalen Trampelpfaden für Fußgänger. Die Menschen waren es gewohnt, selbst weite Strecken zu Fuß zurück zu legen.

So muss man sich die Fußwege jener Zeit vorstellen.

Im Roman findet die erste Begegnung mit Michael Wilson auf dem Hof ihrer Cousinen in Wulmstorf statt. Ist das gesichert?

Nein. In den zahllosen, erniedrigenden Verhören mit den Harsefelder Beamten schwindelte Lena, dass sie Wilson erst über Hans Prink NACH dem Brand des Gutes kennen gelernt hatte (März 1824), also nach der Geburt von Maria, dessen uneheliche Herkunft verbergend ihr sogar eine Falschangabe ihres Names im Hollenstedter Kirchenbuch wert war.

Richtig ist, dass Wilson das Paar, genauer gesagt Lena (Hans zwangsläufig auch), nach Geburt von Maria, dem ersten Kind mit Wilson, zu sich auf das Gut nahm. Nach außen hin als Wirtschafterin. Eine Funktion, für die sie weder eine Qualifikation hatte, noch als junge stillende Mutter (mit mittlerweile zwei kleinen Kindern) auszufüllen imstande war.
Wie im Roman geschildert gehe ich davon aus, dass Lena in der Zeit ihrer Zwangsehe erneut auf Wilson traf, was sich im Herbst 1823, also ihrer Zeit in Grauen, ereignet haben muss. Erst durch ihre Aufnahme auf das Gut und die sich daraus – von Voigt Rathje überlieferten – Spannungen mit ihrem Ehemann Hans entwickelte sich jene Dynamik, die ich im Roman geschildert habe.
Lena behauptet in den Verhören, dass sie ab 16 Jahren eine zweijährige Ausbildung zur Weberin absolviert hat. Auch hier dürfte sie weit übertrieben haben. Hätten ihre Eltern dann, wenn es so gewesen wäre, eine ausgebildete professionelle Weberin danach in den einfachen, bäuerlichen Haushalt von Hein Meyer in ihrem Heimatort gegeben? Wo sie auf den älteren Knecht Hans Prink traf, der sie fortan bedrängte? Und der mit erzwungener Hochzeit ihr Schicksal wurde? Sicher nicht.
Wir wissen nicht, auf welchem Hof, bzw. Höfen Lena bis zur von ihr angegebenen Zeit bei Hein Meyer diente. Es gibt aber eine Spur: Zu den Taufpatinnen anläßlich ihres ersten Kindes (mit Hans Prink), Catharina Margaretha im März 1822 wird eine Elise Blank überliefert. Eine jüngere Cousine vom Hof ihrer Tante Maria Blank in Wulmstorf! Ich gehe anläßlich der Ernennung zur Patin von einem freundschaftlichen Verhältnis der beiden Frauen aus. Eine Beziehung, die sich, so meine Annahme, in der gemeinsamen Zeit auf dem Blank-Hof entwickelt hat. Ihre Zeit, die sie als Lüttmagd, wie im Roman geschildert, dort verbracht hat.
Die Tatsache, dass sie vor ihren Häschern diesen Hof nicht erwähnt, deutet darauf hin, dass sie ihre Cousinen samt deren Eltern peinliche Befragungen seitens der Ankläger ersparen wollte. In deren Verlauf die jugendliche Wilson-Affäre möglicherweise aufgedeckt würde. Offensichtlich gab man sich in Harsefeld damit zufrieden, eine Prüfung und Ergänzung ihrer Aussagen fand nicht statt.

Rund acht Kilometer Luftlinie sind es von Wulmstorf bis zum Gut Brillenburg am Rand von Altkloster. Dieses Bild zeigt, wie wir uns die damalige Landschaft am Geestrand vorstellen müssen.Wie oft mag Lena auf einsamen Heidewegen dort unterwegs gewesen sein? Foto: Alsdorf


Lenas Hauptbelastungszeuge in ihrer Haft in Harsefeld war ihr ehemaliger Knecht Tönjes Dammann. Sich um „Kopf und Kragen“  redend, überzog er seine meist frei erfundenen Behauptungen und fand sich selbst auf der Anklagebank wieder. Auch er erwartete nun die Todesstrafe.

Am 21. Mai 1842 wurde er jedoch tot im Harsefelder Gefängnis aufgefunden. Wurde er ermordet? Beging er Selbstmord?

Das bleibt offen. Da Dammann mindestens einen Fluchtversuch unternommen hatte, wurde er zumindest in der Anfangszeit seiner Haft mit einer Fußfessel versehen. Dadurch entwickelte sich eine Gewulst am Bein, die der Inhaftierte mehrfach beklagte und um ärztliche Behandlung bat. In den Akten finden sich Hinweise, dass die Harsefelder Beamten dieses verwarfen. Bekannt ist, dass er während seiner zweitweilig in Stade zugebrachten Haft eine ärztliche Betreuung in Anspruch nahm. Ob die Gewulst aber Ursache seines späteren Todes war, ist völlig offen.
Eine oberflächliche Leichenschau durch einen Harsefelder Arzt erbrachte keinen Befund. Die Akten sind hier sicherlich nicht mehr vollständig. Eine Aussage zumindest des Gefangenwärters, die sicher erfolgte, fehlt. Er war immer jener, der den Gefangenen zuletzt sah und versorgte. Auch fehlt der Hinweis einer internen Untersuchung auf Fremdverschulden. So gewinnt man den Eindruck, als ob der Tod des jungen Verurteilten im Amt achselzuckend hingenommen wurde.
Lena erfuhr erst nach ihrer Verlegung von Stade zurück nach Harsefeld von den Vorgängen.

Auf einer beiden Pritschen tief unten im Verlies starb Dammann am 21. Mai 1842.
Foto: Alsdorf

Etwa hier lag Dammanns Grab auf dem ehemaligen Harsefelder Cholera-Friedhof (heute Bestandteil des Gierenberg-Friedhofs). Foto: Alsdorf

Eintrag im Harsefeler Kirchenbuch. Foto: Alsdorf


Dammann wurde nicht etwa im Armenbegräbnis beigesetzt sondern wurde seltsamerweise auf dem Cholera-Friedhof am Dorfrand begraben. Ein Seuchengrab für den 26jährigen! Wollte man eine weiterführende Obduktion vermeiden? Merkwürdig mutet dieser Vorgang schon an. Gab es in den Amtsstuben Gerüchte und Mutmaßungen, was den Tod Dammanns betrifft?

Und so mag sein letzter Weg gewesen sein:
(Outtake aus dem Romanprojekt)

Es war früher Morgen des 23. Mai 1842, als ein Pferdegespann, die heutige Herrenstraße herabfuhr, um in die Straße am Gierenberg einzubiegen. Damals ein schlichter Feldweg, der in Richtung der Äcker auf dem Steinfeld führte. Auf der Ladefläche stand ein schmuckloser Armensarg, eine aus groben Fichtenbrettern zusammengenagelte Kiste. Behältnisse, wie sie für die mittellosen Verstorbenen aus der Armenkasse bezahlt wurden - oder für arme Sünder, wie an jenem Montagmorgen vor rund 180 Jahren. Der Wagen fuhr über den zerfurchten Feldweg am damals noch kleinen Gierenberg-Friedhof vorbei, um vor einem eingehegten Heidegrundstück zu halten. Die beiden kräftigten Männer, Tagelöhner aus dem Dorf, sprangen vom Kutschbock, ergriffen Spaten und Schaufel und begannen, an einer zuvor vom Amt markierten Stelle ein Grab zu schaufeln. Zwar schauten Bauern, die mit ihrem Gesinde auf dem Weg in die Wiesen zum Heumachen gingen, neugierig herüber. Sahen den Sarg auf dem Wagen und die schuftenden Männer, ohne weiter Notiz von dem Vorgang zu nehmen. Bloß weg mögen sie gedacht haben.
Denn der Platz war allen Harsefeldern als Cholera-Kirchhof bekannt. Reserviert für mögliche Massengräber, sollte die erwartete Seuche im Flecken wüten. Die Epidemie war ausgeblieben, der Platz aber sicherheitshalber reserviert. Zum Beispiel für Leute, denen aufgrund ihrer Verbrechen ein Ruherecht unter Christenmenschen versagt blieb. Oder denen man eine unbekannte Seuche andichtete. Wie im Falle jenes armen Teufels im Sarg, den die Männer nun ohne Federlesen vom Wagen hoben und zum inzwischen geschaufelten Grab schleppten.
Inzwischen, die Turmuhr schlug die sechste Morgenstunde, war ein weiteres Gespann mit dem Hausvogt des Amtes und Pastor Bohn eingetroffen. Der Hausvogt schaute kurz in die Grube, prüfte die Tiefe und gab den Männern ein Zeichen, den Sarg abzulassen. Ein kurzes Gebet des Pastors, dann polterten Erdbrocken dumpf auf den Sargdeckel.
Nach etwa einer Stunde fuhren die Männer zurück ins Dorf. Der Vertreter des Amtes und der Prediger hatten gleich nach der Aussegnung den Platz wieder verlassen. Zurück blieb ein schlichtes aus dünnen Birkenstämmen genageltes Holzkreuz in der Heide.


Gibt es noch die Gräber jener Pastoren, die Lena vergebens zur Buße bewegen wollten?

Wie im Roman geschildert, lehnte Lena während ihrer Haft eine „seelsorgerische Betreuung“ durch beauftragte Prediger ab. Sie erkannte schnell, dass die vom Amt entlohnten Pastoren nichts weiter als Erfüllungsgehilfen ihrer Ankläger waren. Betraut mit der Aufgabe, ins „Gemüt“ der „Giftmischerin“ vorzudringen und sie demütig und „bußfertig“ für den Tag der Hinrichtung vorzubereiten. Nacheinander arbeiteten sich der Harsefelder Pastor Johann Hinrich Bohn (1803-1865) und der Neuklosteraner Pastor Georg Christian Krome (1800-1862) an der Inhaftierten ab. Keinen Zweifel hatten beide an der Schuld der Delinquentin, was diese zur höchsten Wut trieb. Pastor Krome wurde 1862 in Verden beigesetzt. Ob es sein Grab noch gibt, ist derzeit nicht bekannt.
Das Grabkreuz von Pastor Bohn befindet sich an der Kirche zu Mulsum im Landkreis Stade und kann besichtigt werden.

Das Grabkreuz von Pastor Bohn (hinten) an der Kirche zu Mulsum. Foto: Alsdorf

Detail. Foto Alsdorf

Pastor Bohn mit Gattin. Foto: Alsdorf


Gehörte das im Roman häufig erwähnte, so genannte „kleine Haus“, rund 100 Meter westlich des Gutsgebäudes Brillenburg, wirklich Lena?

Ja. So viel wie wir wissen, war es neben etwas Land ein Geschenk von Wilson und sollte Lenas Altenteil sichern. Es blieb im späteren Rechtsstreit mit Wilsons Witwe offenbar unangetastet und die „Abkünfte“ dienten der Versorgung der minderjährigen Kinder der Prinks. Vermutlich wurde es bereits 1843 zusammen mit dem Gut verkauft.
Das Gebäude, später zugehörig zu einem dort auf den Prinkschen Ländereien errichteten Bauernhof, blieb bis in die 1960er Jahre bestehen und wurde zusammen mit dem besagten Hof zugunsten der heute am Brillenburgsweg gebauten Reihenhäuser abgerissen.

Lenas „kleine Haus“, westlich des Gutes.
Foto: Archiv Kelch


Gibt es das zum Gut Brillenburg gehörende und mehrfach im Roman erwähnte Begräbnis mit den Gräbern von Wilson und wohl auch Hans Prink noch?

Nein. Der Friedhof, der einst zur Altklosteraner Klosterkirche gehörte, wurde 1853 für Bestattungen geschlossen und später teilweise bebaut. Die Gräber liegen heute am Klosterhof unter Hofpflaster und Nebengebäuden. Nur an den alten Grundstücksgrenzen lässt sich das Gräberfeld noch erahnen.

Ein kleines Stück Friedhofsfläche innerhalb der dichten Bebauung.
Foto: Alsdorf.

1853 wurde an der Stader Straße ein neuer Friedhof angelegt. Das Brillenburger Erbbegräbnis wurde verlegt und ist anhand eines Grabsteinfragments im verwunschenen Dschungel des längst geschlossenen Friedhofs (unbedingt sehenswert) noch auszumachen.

Dieses Fragment eines Grabmals erinnert an der Stader Straße an das einstige Brillenburg-Begräbnis.