Die Walkmühle - Verwunschenes Kleinod am Tiefenbach
Von Dietrich Alsdorf
Früher kannte sie in Ohrensen und Umgebung jedes Kind: Die uralte Walkmühle am rauschenden Tiefenbach am Feldweg von Hollenbeck nach Ohrensen. Ein gedrungener Fachwerkbau unter bemoosten Reetdach, versteckt hinter einem Steilhang und von knorrigen Eichen beschützt. Mehrfach stand das Gemäuer vor dem sicheren Untergang. In den Nachkriegsjahren retteten Pfadfinder aus Harsefeld das marode Gebäude und machten es zu ihrem Domizil.
Vor fast 30 Jahren, in der dritten Ausgabe von Geschichte und Gegenwart, erschien ein erster Beitrag über die Walkmühle, verfasst von Ulrich Gerken. Da seitdem das Jahrbuch viele neue Leser gewonnen hat und die ersten Ausgaben nicht besitzen, sei hier ein kurzer aktualisierter Abriss der Geschichte eingefügt. Er möge dazu dienen, vor allem die Neubürger der Samtgemeinde auf dieses historische „Kleinod“ aufmerksamen zu machen.
Es gibt wohl kaum ein historisches Bauwerk in der Samtgemeinde, dessen Existenz sich derart ins Bewusstsein der Menschen einprägte wie die kleine Walkmühle im Auetal. Pfadfinder und Walkmühle – das gehörte untrennbar zusammen. Jedes Kind, das in den 1950/60iger Jahren in den Dörfern rund um Ohrensen zur Schule ging, lernte das kleine Haus am Tiefenbach auf Schulausflügen kennen. Die Wanderungen hinab ins wild romantische Auetal gehörten für alle Klassen zum willkommenen Pflichtprogramm. Pausiert wurde an der Walkmühle, von zu Hause mitgegebene Butterbrote ausgepackt und barfuß im Tiefenbach herumgeplantscht.
Wenn man Glück hatte, konnten die Kinder sogar Pfadfinder bei ihrem abenteuerlichen Lagerleben beobachten und so mancher Junge nahm sich vor: Da will ich auch mal mitmachen!
Und viele machten mit. Traten den Pfadfindern bei und erlebten hautnah das Auetal, lagerten am Feuer und übernachteten dicht gedrängt oben auf dem niedrigen Boden der Mühle und lauschten dem Rauschen des Wassers.
Die Anfänge der Walkmühle liegen im Dunkel. Über Jahrhundert aber war sie untrennbar verbunden mit der Familie Hagedorn, die ihren Hof immer noch hoch über dem Tal bewohnt. Dort wird ein Pachtvertrag aus dem Jahr 1664 verwahrt, in der seitens der „Herrschaft Harsefeld“, also dem Besitzer des vormaligen Klosters und seiner Ländereien, dem Franzosen Pierre Bidal seine Walkmühle erneut für sieben Jahre an die Hagedorns verpachtet. Die Wassermühle gehörte ursprünglich zum Kloster Harsefeld. Schon 1633 wird sie dort im Korn- und Geldregister aufgeführt. Somit könnte die Wassermühle schon im Hochmittelalter, der wirtschaftlichen Blütezeit des Klosters, bestanden haben.
Welchem Zweck aber diente die Mühle? Wie der Name schon besagt, wurde dort mittels Wasserkraft gewalkt, also „weich gemacht“. Das halbwollene Zeug, das die Bäuerinnen auf ihren Höfen damals webten, war ein überaus steifes und schweres Produkt, für Generationen geschaffen. Es musste für den Gebrauch gewalkt, also geschmeidig gemacht werden. Und das war für die Region um Harsefeld und wohl weit darüber hinaus die Aufgabe des Walkmüllers Hagedorn.
Ludwig Schmidt schreibt 1933: „Die Walkmühle am Tiefenbach ist die letzte ihrer Art im nördlichen Hannover. Sie ist der Zeuge eines Handwerks, das nur noch die ältesten unserer Bauern genau kennen.
Wenn die Bäuerinnen ihr halbwollenes Zeug gewebt hatten, fest und dauerhaft, wie für Generationen geschaffen, ein Gewebe, das heute noch manche Bäuerin mit Stolz aus ihrer Truhe holt und dem staunenden Besucher zeigt, wenn es weiterhin zu schweren Ballen aufgerollt war, dann kam es zur Walkmühle. Die Pferde wurden vor den Wagen gespannt, die Ballen darauf geladen, und fort ging’s zum Walkmüller Hagedorn. Der war zwar Bauer wie alle anderen, aber nebenher zog er die Schotten seines Mühlenwerkes auf, brausend ergoss sich das Wasser durch das Wehr und mächtig fasste es die Schaufeln des schweren, hölzernen Rades.
Rumpels drehte sich das mächtige Ding, und die hölzerne Welle, aus einem dicken Baumstamm gehauen, hob die schweren Stampfer, dass sie platschend in die Bottiche fielen. So wurde das Zeug gestampft und gewalkt.
Man hatte es zu diesem Zwecke in bestimmter Weise zusammengefaltete und hielt es dauernd unter heißem Wasser, dem man noch eine die tierfettrückstände lösenden Zusatz (grüne Seife) gab:
Bis zu 150 Meter Stoff kamen jedes Mal in einen Bottich zum Walken, für das dann je Meter 10 Pfennig bezahlt wurden. Das Walken jedes Zeugballens dauerte sechs Stunden.
Die Walkmühle besaß ein Wasserecht. Die Bauern, die längs des Tiefenbaches Wiesen besaßen, waren danach verpflichtet, für das Wasser, dass sie zu bestimmter Zeit des Jahres auf ihre Wiesen zur Bewässerung leiteten, Wassergeld zu bezahlen. Dieses brachte dem Walkmüller jährlich etwa 100 Mark ein. Erst 1921 ist dieses Wasserrecht abgelöst worden.
Von Weihnachten bis zum Mai währte die Zeit des Tuchwalkens. Dann kamen die Bauern von weither, aus den Kreisen Stade, Zeven und teilweise auch aus dem Kreis Harburg nach Ohrensen.
Wenn man bedenkt, dass die Bäuerinnen nicht nur für den Bedarf ihrer Familie Zeug brauchten, sondern dass außerdem nach dem Dienstvertrag jährlich jede Magd einen Rock und jeder Knecht eine Hose erhielten – wenigstens gilt dies für die Zeit um 1900 -, so wird die starke Inanspruchnahme der Walkmühle verständlich.
Die heutige Milchkammer des Hauses der Familie Hagedorn war dann zur Zeit des Zeugwalkens bis unter die Decke mit Zeugballen gefüllt, die alle mit einem roten Stift je nach den Besitzern verschieden gekennzeichnet wurden. Waren die Tücher fertig gewalkt, dann wurden sie auf der Wiese am Abhang vor dem Hause wellenförmig auf Leinen zum Trocknen aufgehängt.
Aber das Walken von Zeug war nur ein Teil der Aufgabe der Mühle. Von Mai bis August kamen die Weißgerber, um Felle zu walken und zwar waren es Schaf-, Ziegen- und Wildfelle, denen man während des Walkens einen Zusatz von Tran zur Erzielung größerer Geschmeidigkeit gab.
Wie wir feststellen konnten, ließen in der Walkmühle die Weißgerber aus Buxtehude, Stade und Harburg walken. Jeder Zeitraum des Walkens und Trocknens der Felle, die zu diesem Zweck gleichfalls aufgehängt, dauerte drei Wochen, wobei die einzelnen Weißgerbereien aufeinander die Benutzung der Walkmühle folgten.
Sie entsandten zu diesem Zwecke bis zu zehn Weißgerbergesellen unter der Leitung eines Meisters zur Mühle. Ihr Nachtquartier erhielten die Weißgerber in der noch heute vorhandenen Scheune des Bauernhofes, in der auch aus diesem Anlass Betten aufgestellt wurden. Der Wohnraum der Mühle war zu dieser Zeit nur Aufenthaltsraum für die Weißgerber und Aufbewahrungsort für ihr Gerät.
In späterer Zeit kamen nur noch vier bis sechs Weißgerber zur Mühle, ganz zum Schluss nur noch zwei, die dann in der Mühle selbst schliefen. Das Ende des Fellwalkens in unserer Walkmühle war, nach Auskunft von Herrn H. Tamke, Ohrensen, dem ein einen großen Teil der Angaben verdanke, mit dem Ende der 1880iger Jahre gekommen.
Nich nur das Leben, dass die Weißgerber in das sonst so stille Dörfchen brachten, war von Lärm erfüllt, auch der Arbeitsvorgang selbst ließ an Lärm nichts zu wünschen übrig. Alle Bottiche, drei an der Zahl, waren dann in Betrieb. Ein alter Bauer aus dem Dorfe erzählte mir, dass, wenn alle sechs Stampfer gearbeitet hätten, es jedes Mal ein Mordsspektakel gewesen wäre, den man bis weit hinunter zu den Auewiesen hätte hören können.
Die heutige versteckte Lage täuscht. Früher lag die Mühle günstig an einem Hauptverkehrsweg. Nur 100 Meter südlich der Mühle verlief die regional wichtige Nord-Süd-Verbindung von Stade Richtung Süden. Heute blieb davon der Feldweg nach Hollenbeck. Eine kluge Idee des geschäftstüchtigen Harsefelder Klosters, ausgerechnet dort eine Wassermühle zu anzulegen. Mit einem breiten Damm wurde der Tiefenbach oberhalb der Mühle angestaut.
Der einsame Müllerhof war nicht nur den Unbilden des Wetters, sondern auch den zuweilen unruhigen kriegerischen Zeiten ausgesetzt. In der „münsterischen Zeit“, den Jahren 1675/76 durchstreiften Landknechte des Bischofs von Münster die Gegend und sorgten für Angst und Schrecken. Im Januar 1676 überfielen drei Reiter die Mühle und plünderten alles was sie kriegen konnten. Walkmüller Christian Hagedorn beklagte sich, dass nicht einmal „ ein Stücklein Brot“ für seine fünf kleinen Kinder „im Hause behalten“.
Andere Landsknechte - „Lüneburgischen Völker“- durchstachen den Damm an der Mühle. Er musste fliehen und konnte seine Mühle für 1 ½ Jahre nicht nutzen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann der Niedergang der Mühle. Bedingt durch die industrielle Fertigung von Textilien und dem Verschwinden der bäuerlichen Tracht gingen die Walkzeiten stark zurück. Bis zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war die Mühle in Betrieb.
Dann nahte ihr Untergang. Ludwig Schmidt beschreibt die Katastrophe:
„Es war am 24. Mai 1907, nachmittags um 17 Uhr, als ein Gewitter aus Südosten heraufzog und über der Feldmark Ohrensen zuerst starken Hagelschlag mit Körnern bis zur Wallnussgrößen brachte. Danach ging ein wolkenbruchartiger Regen nieder. Als Ergebnis dieser Katastrophe konnte man die völlige Vernichtung der Ernte buchen. Weiterhin wurden die sämtlichen Durchlässe der Bäche zerstört und die neue Landstraße an ihrer Kreuzungsstelle mit dem Tiefenbach hinweggespült.
Ferner wurde der Mühlendamm durchbrochen und das gesamte Schottenwerk fortgerissen. Ohrensen war eine Halbinsel geworden, nur nach Norden war ein Zugang geblieben, alle anderen Wege waren durch das Wasser durchbrochen worden. Ein Bild der Zerstörung blieb zurück. So ist es, was die Mühle betrifft, bis auf unsere Tage (1933) geblieben.
Eines Tages sägte auch noch zu allem Überfluss der Walkmüller die dicke Welle des Mühlenrades ab, so dass das Rad gegen das Haus stürzte. Dort steht es heute noch und vermorscht. Zwei Bottiche verschwanden zur Zeit des Großvaters des 1931 verstorbenen letzten Walkmüllers, mit ihnen vier Stampfer.
Dann wurde das Haus als Abstellraum für Gerümpel und alte Geräte benutzt, und schließlich zog das liebe Federvieh ein; aus dem Wohnraum wurde ein Entenstall.
Sturm und Wetter fassten ins Strohdach, auf der einen Seite hinein, auf der anderen Seite hinaus und zwei große Löcher blieben darin zurück. Da wollte der Bauer das alte Gemäuer abbrechen. Die Balken waren sowieso schon angefault, die Mauerungen des Fachwerks zum Teil umgesunken, Was sollte er noch länger damit?
Inzwischen aber war eine junge Frau auf den Hof gekommen, und die erkannte mit sicherem Blick die Bedeutung des alten Gemäuers für die Geschichte des Hofes. Sie veranlasste ihren Mann, das Haus noch stehen zu lassen und wenigstens das Dach zu flicken. Das geschah und in diesem Zustand des Verfalls fanden wir die Mühle.
Dann haben wir, eine Schar des Gaues Niederelbe der Geusen, Bund der jungen Nation, sie wieder in Ordnung gebracht. Ein ganzes Jahr haben wir dazu gebraucht.
Nicht jeden Sonnabend, aber doch manchmal zwei- bis dreimal im Monat sind wir auf unseren Fahrrädern von Hamburg bzw. Harburg herausgefahren, bei Wind und Wetter, das war gleich. Und dann haben wir geschafft, bis das Ganze wieder in einem vorläufigen Abschluss gekommen ist
So steht denn die alte kleine Walkmühle wieder instandgesetzt da. Fenster und Türen sind wieder eingesetzt, die Fachwerkteile und Fußboden sind erneuert und Herd und Ofen aufgebaut.
Möbel zum Wohnen sind vorhanden und ein neu hergerichteter Schlafboden desgleichen. Wer einmal kommen und sich dieses letzte Zeugnis eines alten Handwerks ansehen will, er ist willkommen.“
Kurze Zeit nach der erfolgreichen Renovierung stand die Mühle erneut vor dem Untergang. Das Gebäude wurde von der Hitlerjugend für ihre Kriegsspiele missbraucht und an den Rand völliger Zerstörung gebracht. Bei Kampfhandlungen kurz vor Kriegsende entging die Mühle knapp der vollständigen Vernichtung. Der große Hof von Hagendorn aber brannte nieder.
Wieder war es Schmidt, der 1949 in Harsefeld und Umgebung Jugendliche für einen erneuten Aufbau gewann und damit den Anstoß für die Gründung des „Stamm Harsefeld“ der Pfadfinder begründete.
Aber das ist eine andere Geschichte. Lesen Sie dazu: „Pfadfinderzeiten in Harsefeld“ von Rolf Waller, in: Geschichte und Gegenwart 2013, S. 223 ff.
Der Beitrag erschien in GuG 2017, dort viele weitere historische Fotos.
Zufahrt: Von Harsefeld kommend in Ohrensen kurz vor der Kreuzung scharf links in den Landweg "Walkmühle" einbiegen. Der Weg ist mit dem PKW rund 630 Meter befahrbar. Dann zu Fuß oder mit dem Rad rund 170 Meter bergab. Kurz vor dem Bach rechts den Fußweg zur Walkmühle nehmen. In Google ist die Walkmühle mit einem Foto markiert.
Literatur:
- Krönke, Adolf Peter: Der Flecken Harsefeld, Harsefeld 1967.
- Schmid, Ludwig: „Die Walkmühle von Ohrensen; Sonderdruck aus Stader Archiv 1933 / Neue Folge Heft 23.
- Schmidt, Ludwig: „Von der Walkmühle in Ohrensen“, in: Mittelungen des Stader Geschichts- und Heimatvereins, 27. Jahrgang, Heft 1/2 1953.